Man sollte eigentlich meinen, dass es von Bram Stokers 'Dracula' genügend verschiedene Hörspielfassungen gibt. Marco Göllners Version hat die bemerkenswerte Lauflänge von 5 Stunden und 45 Minuten und möchte in einer Liga mit den Produktionen des WDR, von Titania oder der Deutschen Grammophon spielen. Zu meiner großen Überraschung hat er trotz der epischen Länge seines Hörspiels die Kurzgeschichte 'Draculas Gast' nicht mit eingebaut, was aber auch kein Manko ist.
Natürlich hat Göllner die einzelnen Teile der Handlung neu gewichtet. Den Geschehnissen auf der Demeter widmet er eine ganze Folge, Renfields Geschichte packt er in eine eigene Folge und stellt sie als Epilog hinter die eigentliche Romanhandlung, womit er diese diese quasi fortschreibt. Den erotischen Aspekt der Geschichte ignoriert er über weite Strecken. Das im Roman teils unerträglich heldenhafte Verhalten der Protagonisten stutzt er auf ein erträgliches Maß zurecht. Mit einer Ausnahme (dazu am Ende mehr) geht das alles in Ordnung, das kann man so machen. Aber es bleibt natürlich immer ein Stück weit beliebig, was man nun wie ausbaut oder auch kürzt.
Alle Sprecher*innen dieses Gruselhörspiels sind ausgezeichnet. Es wird ihnen durch das exzellente Dialogbuch allerdings auch leicht gemacht, ihre Rollen überzeugend zu spielen. Die Soundeffekte sind toll. Über weite Strecken hat man wirklich das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein. Und einige der akustischen Effekte sind auch durchaus spektakulär geraten.Die Musik wird in den ersten beiden Folgen dominiert von Klavierstücken und wirkt dadurch teils sehr reduziert. Insgesamt ist dieser 'Dracula' sehr entschleunigt und atmosphärisch dicht geraten, was sicher kein Nachteil ist. Mit einem Orchester-Soundtrack würde das natürlich ganz anders wirken. Unschön, dass im Hörspiel manchmal einige Sekunden Stille zwischen den Szenen auftauchen, die da m. E. nicht hingehören. Sollte das bewusstes Stilmittel sein, erschließt sich mir der Sinn jedenfalls nicht.
Die Folgen 1 und 2, in denen Jonathan Harkers Erlebnisse in Transsylvanien sowie die Überfahrt auf der Demeter geschildert werden, sind nah am Original, großartig gemacht und bis dahin dachte ich, dass das hier die beste Dracula-Umsetzung ist, die ich bisher gehört habe. Die Folgen 3 und 4 beinhalten die Geschehnisse in London, die Jagd auf Dracula und sein Ende. Insbesondere im letzten Teil zieht der Roman gewaltig das Tempo an, was im Hörspiel nur teilweise umgesetzt wird. Sätze, in denen mittendrin der Sprecher wechselt, treibende Musik (Percussion) sowie 'Rückspulen' in der Handlung sind die Kniffe, die Göllner anwendet, um die fiebrige Spannung zu transportieren. Und gerade dieses 'Zurückspulen' und Aufgreifen der Geschehnisse aus einer anderen Perspektive funktioniert für mein Empfinden überhaupt nicht. Im Roman wird das auch verwendet, aber dort passt es deutlich besser hin. Mich stört im Hörspiel bereits, dass hier ein Geräusch verwendet wird, das dem Zurückspulen eines Tonbandes oder einer Kassette entspricht. Es passt nicht zu einer Handlung, die am Ende des 19. Jahrhunderts spielt.
Was am meisten an Göllners 'Dracula' ärgert ist allerdings die fünfte Folge: Er hat wie schon geschrieben Renfields Geschichte ausgegliedert und erzählt sie nun als eigene Episode. Und der 'Clou' ist dann ,
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dass Renfield überlebt hat, selbst zum Vampir wurde und sich nun 30 Jahre später an Jonathans und Minas Sohn rächt, nachdem er zuvor dessen Eltern ermordet. Er isst seine Opfer übrigens auf und beginnt dabei mit den Nieren.
Sorry, aber dieser völlig unnötige Nachklapp verkehrt die Romanhandlung in ihr Gegenteil. Folge 5 'Der Zoophage' ist zudem über weite Strecken schlicht langweilig. Die eigentliche Handlung ist nun mal mit dem Tod des Grafen vorbei, der Höhepunkt dadurch erreicht. Was soll das also? Loben muss man Göllner aber für seine Sprecherleistung: Den Renfield spricht er selbst - und das macht er ausnehmend gut.
Was bleibt als Fazit? Toll gemacht, atmosphärisch dicht, gruselig und beklemmend. Aber in der zweiten Häfte wird dieser gute Gesamteindruck durch ein, zwei nicht sonderlich glückliche Regieentscheidungen sowie den krampfhaften Versuch, die Hörer überraschen zu wollen, zunichte gemacht. Schade. Das hätte ansonsten das Zeug gehabt, mein neuer Favorit bei den Dracula-Vertonungen zu werden.
Das Hörspiel ist in der Holysoft-App für stolze 7,99 € pro Folge erhältlich. Man kann auf dem im Thread zur Holysoft-App beschriebenem Weg die Folgen als mp3-Dateien mit 192 kbps auf die eigene Festplatte ziehen. Ich betrachte das also als Kaufdownload und dafür ist der Preis auch angemessen. Wobei es natürlich trotzdem ärgerlich ist, dass Folge 4 in der App falsch getagged und ohne Cover daher kommt. Aber die Probleme mit der App sind noch mal ein ganz anderes Thema.