[Hörspiel-Archiv 4] GRIMMS MÄRCHEN - Im Urtext von 1819 (ein Märchenhörspiel von Somerset/EUROPA mit Hans Paetsch) ...

  • GRIMMS MÄRCHEN - Im Urtext von 1819
    Das ursprünglich 1964 bei Somerset (588) erschienene Hörspiel (eigentlich ja eher ein Hörbuch) wurde 1968 erneut von EUROPA (E 238) veröffentlicht. Beide Label waren damals Teil von MILLER INTERNATIONAL. Es war die erste Produktion für MILLER INTERNATIONAL mit Hans Paetsch, der später zum Märchenonkel der Nation werden sollte und in unzähligen Hörspielproduktionen mitwirkte ...

    Aus der Vorrede der Brüder Grimm:
    Wir finden es wohl, wenn von Sturm und anderem Unglück, das der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen wird, daß noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchern, die am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert hat, und einzelne Ähren aufrecht geblieben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachen sie einfach und unbeachtet fort: keine frühe Sichel schneidet sie für die großen Vorratskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und voll geworden, kommen arme Hände, sie sie suchen, und Ähre an Ähre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet als sonst ganze Garben, werden sie heimgetragen, und winterlang sind die Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft.
    So ist es uns vorgekommen, wenn wir gesehen haben, wie von so vielem, was in früherer Zeit geblüht hat, nichts mehr übrig geblieben, selbst die Erinnerung daran fast verloren war, als unter dem Volke Lieder, ein paar Bücher, Sagen und die unschuldigen Hausmärchen. Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert und einer Zeit aus der anderen überliefert haben.
    Es war vielleicht gerade Zeit diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollten, immer seltener werden. Freilich, die sie noch wissen, wissen gemeinlich auch recht viel, weil die Menschen die Menschen ihnen absterben, sie nicht den Menschen: aber die Sitte selber nimmt immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen und Gärten, die vom Großvater bis zum Enkel fortdauerten, dem stetigen Wechsel einer leeren Prächtigkeit weichen, die dem Lächeln gleicht, womit man von diesen Hausmärchen spricht, welches vornehm aussieht und doch wenig kostet. Wo sie noch da sind, leben sie so, daß man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind, poetisch oder für gescheite Leute abgeschmackt: man weiß sie und liebt sie, weil man sie eben so empfangen hat, und freut sich daran, ohne einen Grund dafür. So herlich ist lebendige Sitte, ja auch das hat die Poesie mit allem Unvergänglichen gemein, daß man ihr selbst gegen einen anderen Willen geneigt sein muß. Leicht wird man übrigens bemerken, daß sie nur da gehaftet hat, wo überhaupt eine rege Empfänglichkeit für Poesie oder eine noch nicht von den Verkehrtheiten des Lebens ausgelöschte Phantasie vorhanden war. Wir wollen im gleichen Sinne die Märchen nicht rühmen oder gar gegen eine entgegengesetzte Meinung verteidigen: ihr bloßes Dasein reicht hin, sie zu schützen. Was so mannigfaltig und immer wieder von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt seine Notwendigkeit in sich und ist gewiß aus jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben betaut; und wenn es auch nur ein einziger Tropfen wäre, den ein kleines, zusammenhaltendes Blatt gefaßt hat, so schimmert er doch in dem ersten Morgenrot.
    Darum geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinigkeit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen: sie haben gleichsam dieselben blauweißen makellosen glänzenden Augen, die nicht mehr wachsen können, während die anderen Glieder, noch zart, schwach und zum Dienste der Erde ungeschickt sind. Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht blß der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollen, sondern es zugleich Absicht war, daß die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, daß es als eine Art Erziehungsbuch diene. Wir suchen für ein solches nicht jene Reinheit, die durch ein ängstliches Ausscheiden dessen erlangt wird, was Bezug auf gewisse Zustände und Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen und auf keiner Weise verborgen bleiben können, und wobei man zugleich in der Täuschung ist, daß, was in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im wirklichen Leben sei. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung.
    Nichts besser kann uns verteidigen, als die Natur selber, welche die Blumen und Blätter in solcher Farbe und Gestalt hat wachsen lassen; wem sie nicht zuträglich sind nach besonderen Bedürfnissen, der kann nicht fordern, daß sie deshalb anders gefärbt und geschnitten werden sollen. Oder auch, Regen und Tau fällt als eine Wohltat für alles herab, was auf der Erde steht; wer seine Pflanzen nicht hinzustellen getraut, weil sie zu empfindlich sind und Schaden nehmen könnten, sondern sie lieber in der Stube mit abgeschrecktem Wasser begießt, wird doch nicht verlangen, daß Regen und Tau darum ausbleiben sollen. Gedeihlich aber kann alles werden, was natürlich ist, und danach sollen wir trachten.
    Kassel, am 3ten Julius 1819

    Seite 1: GRIMMS MÄRCHEN - Im Urtext von 1819 (25:55 Minuten)
    Seite 2: GRIMMS MÄRCHEN - Im Urtext von 1819 (27:30 Minuten)

    Dornröschen
    Der Wolf und die sieben jungen Geißlein
    Der süße Brei
    Das Lügenmärchen
    Die Bremer Stadtmusikanten
    Der Froschkönig
    Der Fuchs und die Katze
    Strohhalm, Kohle und Bohne
    Die Sterntaler
    Erzähler, jeweils: Hans Paetsch, es singt der Knabenchor des Norddeutschen Rundfunks

    Quelle: https://www.europa-vinyl.de/hoerspiele/gri…urtext-von-1819, https://de.wikipedia.org/wiki/Grimms_M%C3%A4rchen

    PS: Falls jemand weitere Infos zu Hand hat, würde ich mich über eine Nachricht sehr freuen -> hp(at)hoerspieltalk.de ...

  • Uiiii, schööööön :love: #danke# fürs teilen #top#

    Wie Akita Takeo richtig über den Hörspieltalk von morgen schrieb:

    Solange es Leute wie uns drei gibt und wir hier schreiben, bleibt es hoffentlich bestehen. Noch lange! #top#

  • Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert und einer Zeit aus der anderen überliefert haben.


    Dieser Satz löst etwas in mir aus... Da hatte man wohl auch vor hundert Jahren schon das Gefühl, alles ginge zu schnell und es gäbe kaum noch Orte und Zeiten der Besinnung und Stille.

  • Dieser Satz löst etwas in mir aus... Da hatte man wohl auch vor hundert Jahren schon das Gefühl, alles ginge zu schnell und es gäbe kaum noch Orte und Zeiten der Besinnung und Stille.


    Als ich den Text abtippte, dachte ich zuerst wie verschnörkelt und kompliziert man sich vor rund 200 Jahren noch ausgedrückt hat, aber irgendwie sind die Worte dann doch hängen geblieben und ich habe dabei über so manche Bedeutung nachgedacht und komme zur Einsicht das heutzutage erst recht kaum noch Zeit für Stille und Besinnung vorhanden ist #rolleyes# ...

  • vor rund 200 Jahren


    Huch, wenn ich betroffen bin, kann ich nicht mehr rechnen. :D 200 Jahre, natürlich.

    Eine Zeit ohne Internet, Radio, Fernsehen, ohne blinkende Werbewände und ohne ständige Berieselung durch Musikgedudel und Info-Spam. Und schon damals bedauerte man die fehlende Ruhe, um die Feiertage noch richtig zu feiern. Aus heutiger Sicht eine seltsame Vorstellung. :|

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