Einmal ist jeder dran
Carson Hills, ein kleiner, staubiger Ort irgendwo in Texas. Die Bürger sind verzweifelt. Sie haben sich unterjocht vom brutalen Großrancher Hopkins, dessen Reichtum auf Erpressung, Gewalt und Gesetzlosigkeit gründet. In ihrer Not greifen sie zu einem letzten Mittel: Sie heuern einen Fremden an – einen Kopfgeldjäger. Sein Name: Ringo. Einer, der im Wilden Westen Legende ist. Der mit seinen Colts schneller ist als sein Schatten. Der das Gesetz zwar nicht immer verkörpert, aber dort durchsetzt, wo es längst versagt hat. Doch der Ringo, der aus dem Zug steigt, ist anders. Und vielleicht – vielleicht ist es nicht nur ein Ringo. Vielleicht beginnt mit diesem Western eine Geschichte, die weniger mit klassischen Ballereien als mit dem Western-Mythos selbst abrechnet.
Einmal ist jeder dran ist mehr als ein Western. Es ist eine ironische, kluge und kunstvoll gebaute Persiflage auf das Westerngenre selbst – geschrieben von Bernd Lau, inszeniert von Walter Adler und Bernd Lau in einer Zeit, als die Grenzen des Hörspiels mutiger ausgelotet wurden. Der besondere Reiz liegt in der Reibung zwischen vertrautem Western-Setting und reflektierender Brechung: Die Rollen sind besetzt mit den deutschen Synchronstimmen der Ikonen des Genres – Clint Eastwood, John Wayne, Bud Spencer, Lorne Greene – aber statt harter Kerle mit schmutzigen Gesichtern bekommt man hier Stimmen, Erinnerungen, Konventionen und ein Spiel mit dem kollektiven Bewusstsein serviert. Der Hörer erkennt die Stimmen sofort, aber das, was sie sagen – das ist eben nicht ganz das, was man erwartet.
Diese Hörspielproduktion aus dem Jahr 1972 gehört zu den Sternstunden genreübergreifender Radio-Kunst. Die Regie von Walter Adler und Bernd Lau wagt sich weit hinaus über die Grenzen eines klassischen Westerns – sie spielt mit Sound, Tempo und Erwartungshaltung. Was wie eine vertraute Handlung beginnt – der Fremde, das Gesetz, das Duell – zerfällt Stück für Stück in seine Bestandteile. Es entsteht ein bewusst gemachtes Hörspiel über das Hörspiel, über Genreklischees, Synchronstimmen, Populärkultur und die Frage: Was passiert eigentlich, wenn ein Mythos von innen heraus aufgedröselt wird? Dabei bleibt das Geschehen dennoch spannend, unterhaltsam und tief verwurzelt in der Atmosphäre der Westernkultur. Man spürt das liebevolle Augenzwinkern, mit dem diese Welt behandelt wird – aber auch den kritischen Blick, der aus den scheinbar schlichten Dialogen und Motiven hervorlugt.
Ein wahres Aufgebot an stimmlichen Legenden ist in diesem Stück versammelt:
Klaus Kindler (Clint Eastwood) als Ringo I, Arnold Marquis (John Wayne) als Hopkins, Wolfgang Hess (Bud Spencer) als Slim und Friedrich Schütter (Lorne Greene) als Marshall – dazu Rainer Brandt, Dieter Borsche, Gerd Duwner, Wolfried Lier, Hans Hessling und viele andere. Es ist, als würde man ein akustisches Echo aus unzähligen Samstagabend-Fernsehabenden hören – nur, dass die Texte nun ein anderes Spiel treiben. Die Stimmen sind so charakteristisch, dass sie automatisch Erwartungen hervorrufen – die aber immer wieder gebrochen werden. Besonders Klaus Kindler schafft es, die Coolness seiner Synchronarbeit mit einem lakonischen Unterton zu versehen, der perfekt zur Metaebene des Textes passt. Arnold Marquis’ Hopkins ist kraftvoll und bedrohlich – eine Stimme, die gleichsam über den Mythos hinausragt. Und Wolfgang Hess bringt, wie immer, eine leise Ironie mit, die perfekt zum lakonischen Grundton der Produktion passt. Das Ensemble harmoniert exzellent – als wäre dies kein Experiment, sondern der ureigene Boden, auf dem diese Stimmen zu Hause sind.
Ein weiteres Glanzstück dieser Produktion ist der gekonnte Einsatz von Musik und Geräuschen. Mel Kutbay liefert mit seiner Geräuschregie einen atmosphärischen Klangraum, der den Wilden Westen akustisch heraufbeschwört: das Knarren der Dielen, der Hall leerer Straßen, das Dröhnen eines einsamen Zugs. Und dann ist da natürlich: Ennio Morricone. Seine Musik – ursprünglich für Film geschaffen – wird hier in raffinierter Weise in das akustische Westernuniversum eingebettet. Sie unterlegt, kommentiert, spielt sich nach vorn und zieht sich wieder zurück, immer genau im richtigen Moment. Die Kompositionen Morricones werden hier zu einem Klangteppich, der nicht nur Stimmung erzeugt, sondern mit den ironischen Brechungen des Textes spielt – Pathos, das sich selbst dekonstruiert. Die Aufnahmequalität ist für ein Hörspiel von 1972 bemerkenswert klar, die Abmischung fein abgestimmt.
Das Cover der CD-Ausgabe von Pidax ist ein kleines Kunstwerk: Auf orange-rotem Hintergrund reckt sich der Schatten eines Cowboys in die Bildmitte, ein Reiter vor der Kulisse einer Felsenlandschaft, darüber die Schriftzüge in einem typischen Westernstil. „Sein Name: Ringo – Sein Beruf: Kopfgeldjäger“ steht da, als wäre es ein Kinoplakat. Doch darunter dann: „Mit den deutschen Stimmen von Clint Eastwood, John Wayne, Bud Spencer, Lorne Greene“ – und spätestens da wird klar, dass hier mit der Idee des Westerns gespielt wird. Es ist visuelle Nostalgie und ironische Distanz in einem. Das Cover gibt sich plakativ – und entlarvt genau diese Plakativität zugleich als Teil des Spiels.
Einmal ist jeder dran ist Western, Satire, Meta-Hörspiel und Stimmenkonzert zugleich – ein akustisches Denkmal für ein ganzes Genre und die Stimmen, die es im deutschsprachigen Raum geprägt haben. Der Mix aus klassischem Western-Narrativ, kritischer Reflexion und liebevoller Parodie macht diese Produktion zu einem echten Schatz der Hörspielgeschichte. Ein Muss für Western-Fans, Hörspiel-Liebhaber und alle, die glauben, schon alles gehört zu haben.
Ein einziger Schuss – und er trifft mitten ins Herz des Mythos.