• Herr Lehmann

    Berlin-Kreuzberg, Spätsommer 1989. Frank Lehmann – von allen nur „Herr Lehmann“ genannt – führt ein unaufgeregtes, fast schon stoisches Leben als Kellner im Kiez. Er lebt von der Hand in den Mund, trinkt viel Bier, diskutiert mit seinen Freunden über Nichtigkeiten und ignoriert alle Anzeichen dafür, dass sich um ihn herum eine Welt im Wandel befindet. Der Mauerfall kündigt sich an, doch Lehmann ist mehr mit seiner neuen Flamme Katrin, seinem Künstlerfreund Karl und der Frage beschäftigt, ob man an einem freien Tag auch mal nichts tun darf. Seine Eltern machen sich Sorgen, seine Freunde schmunzeln – und Herr Lehmann? Der wird demnächst dreißig. Und das ist, wie er sagt, schlimm genug.

    „Herr Lehmann“ ist nicht einfach nur ein Hörspiel, sondern ein pointiertes akustisches Zeitbild der letzten Monate vor dem Mauerfall – eine liebevoll-lakonische Milieustudie des Westberliner Kreuzbergs Ende der 1980er-Jahre. Sven Regeners Kultroman, der bereits als Buch und Kinofilm begeisterte, entfaltet unter der Hörspielregie von Sven Stricker eine neue Dimension. Die Produktion versteht sich nicht als schlichte Adaption, sondern als verspielte, dabei überraschend dichte Hommage an eine Ära, in der selbst Geschichte gemacht wurde, ohne dass es jeder mitbekam.

    Was diese Hörspielbearbeitung besonders macht, ist ihr wacher, dialoggetriebener Rhythmus. Die Erzähltexte sind nicht bloß Beiwerk, sondern verschmelzen auf kunstvolle Weise mit den gesprochenen Passagen. Erzähler und Figuren fallen sich gegenseitig ins Wort, unterbrechen sich, kommentieren Szenen und lassen so eine Art Parallelrealität entstehen, die das Unmittelbare mit dem Reflexiven verbindet. Es entsteht ein Klangraum zwischen Kneipengeräusch, ironischem Monolog und realistischen Momentaufnahmen aus dem Kreuzberger Alltag. Sven Stricker, der Regisseur, bringt mit feinem Gespür für Timing und Töne sowohl den Humor als auch die Melancholie der Vorlage zum Klingen. Dabei gelingt es ihm, trotz der narrativen Vielfalt nie die Kohärenz aus den Augen zu verlieren. Der Plot selbst ist eher episodisch aufgebaut: Beobachtungen, Anekdoten, Dialoge, Begegnungen, Miniaturen – alles greift ineinander, wie ein Puzzle, das sich langsam zu einem Gesamtbild zusammensetzt. Doch genau darin liegt der Reiz: Die großen Fragen des Lebens – Liebe, Freundschaft, Identität, Erwachsenwerden – schimmern durch scheinbare Nebensächlichkeiten hindurch. Und wenn sich schließlich in der Nacht von Franks Geburtstag die Berliner Mauer öffnet, passiert das ganz beiläufig, fast nebenher – so wie in dieser Geschichte alles Wichtige irgendwie im Vorbeigehen geschieht.

    Die Besetzung ist ein Volltreffer: Florian Lukas verkörpert Herrn Lehmann mit genau der richtigen Mischung aus Resignation, Charme und latenter Überforderung. Seine Stimme trägt die Figur, lässt Raum für Zwischentöne, spielt mit ironischer Distanz und tiefem Understatement. Bjarne Mädel brilliert als Karl – schrullig, sensibel, eine gebrochene Künstlerseele, die nie ganz greifbar wird. Sonsee Neu bringt als Katrin eine frische, intelligente Dynamik ins Spiel, während Florian von Manteuffel als Erzähler eine Art sanft sarkastische Metaebene eröffnet. Hinzu kommt eine Reihe exzellenter Nebenrollen: Gerd Baltus als väterlich-nörgelnder Papa Lehmann, Lutz Herkenrath als philosophierender Stammgast, Christian Stark, Samuel Weiss, Konstantin Graudus – sie alle wirken so stimmig und natürlich, dass man meinen könnte, sie stünden tatsächlich in der Kneipe nebenan. Jede Stimme bringt ihre eigene Farbe in die Collage und macht „Herr Lehmann“ zu einem Ensemble-Hörspiel im besten Sinne.

    Die Tonqualität ist ausgezeichnet, die Regiearbeit bis ins Detail durchdacht. Geräusche und Umgebungsatmosphären wirken organisch eingebettet – Kneipenlärm, U-Bahn-Fahrten, Gespräche im Freien – all das ist glaubwürdig umgesetzt und trägt entscheidend zur Authentizität der Hörwelt bei. Besonders hervorzuheben ist der kreative Umgang mit musikalischen Elementen: Die Musik – eine Mischung aus Indie-Sound, Kneipen-Pop, Jazz und Minimal-Elektronik – stammt von Jan-Peter Pflug, Sven Stricker und Kay Poppe feat. Keldy & Ake. Sie trifft den Ton der Zeit, ist nie zu vordergründig, aber immer präsent, als unterschwelliger Kommentar zur Handlung. Die Übergänge zwischen Musik und Sprache sind fließend und dramaturgisch geschickt gesetzt.

    Das Cover in kräftigem Rot, mit Kronkorkenzieher und dem augenzwinkernden Etikett „Endlich als Hörspiel“ fängt die ironisch-distanzierten Grundton des Werks visuell gelungen ein. Es ist schlicht, aber auffällig, mit Wiedererkennungswert und einer Portion Berliner Coolness.

    Mit „Herr Lehmann“ ist dem Hörverlag eine kongeniale Hörspielumsetzung eines modernen Klassikers gelungen. Die Produktion ist lebendig, sprachlich fein gearbeitet und voller treffender Beobachtungen. Sie lädt dazu ein, in eine Welt einzutauchen, die es so heute nicht mehr gibt – und dabei über die Zeit, das Leben und die merkwürdigen Umstände des Erwachsenwerdens nachzudenken. Ein akustisches Zeitdokument mit Herz, Hirn und Humor. Für alle, die 1989 dabei waren – und für alle, die endlich verstehen wollen, warum Herr Lehmann keinen Vornamen hat.

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