Letzte Fahrt (WDR 2006)
Drei Männer, drei Lebenslügen – und ein Frachter, der zur letzten Chance und finalen Prüfung wird: In einem indonesischen Hafen steigen Cap, Hosh und Herrick an Bord eines japanischen Schiffes, dessen eigentliche Crew angeblich erkrankt ist. Ihr Ziel: Kuba. Doch kaum auf See, beginnt die Fassade zu bröckeln. Wer hatte welche Absichten? Warum sind sie wirklich hier? Und was verbirgt sich unter der Oberfläche dieser scheinbar harmlosen Überfahrt? Die Reise wird zum düsteren Kammerspiel inmitten des offenen Ozeans – und zur Konfrontation mit den eigenen Dämonen.
Letzte Fahrt ist kein gewöhnliches Seefahrerdrama – es ist ein Hörspiel, das sich langsam und mit stetigem Druck in die Tiefe bohrt. Mike Walker schafft eine Kulisse, die von Anfang an Spannung ausstrahlt, aber nie laut wird. Vielmehr liegt über der gesamten Inszenierung ein beklemmender Schleier aus Ahnung und Stillstand. Was wie ein Abenteuer beginnt, kippt in eine beklemmende Studie über Schuld, Täuschung und menschliches Versagen. Besonders stark ist die existenzielle Fragestellung, ob man der eigenen Vergangenheit je entkommen kann – und ob Erlösung auf See möglich ist oder das Schiff längst gesunken ist, bevor es überhaupt aufbrach.
Annette Kurth führt mit ruhiger Hand durch eine Inszenierung, die sich durch ihren kontrollierten Aufbau auszeichnet. Statt auf Effekte zu setzen, vertraut sie auf das leise Vibrieren der Spannung zwischen den Figuren. Die klaustrophobische Enge an Bord wird nicht nur durch Dialoge, sondern durch atmende Pausen, durch stumme Konflikte und unausgesprochene Drohungen fühlbar. Die Handlung gleicht einem langsamen Sog, der das Publikum immer tiefer hineinzieht – bis zur letzten Wendung. Die Charakterzeichnung ist bemerkenswert fein gearbeitet: Cap, Hosh und Herrick sind keine klassischen Bösewichte, sondern Männer, die ihr Scheitern wie Gepäck mit sich führen. Ihre Beziehungen zueinander entwickeln sich in feinsten Nuancen – mal von Respekt, mal von Angst, mal von Verachtung getragen.
Lars Rudolph als Hosh verleiht der Figur eine fragile Mischung aus Überlebenswillen und innerer Leere. Reiner Schöne gibt dem desillusionierten Cap eine rauchige Gravitas, die seine Vergangenheit mitschwingen lässt, ohne je alles auszusprechen. Boris Aljinovic spielt Herrick mit jener unterschwelligen Nervosität, die man bei jemandem spürt, der sich selbst nicht über den Weg traut. Besonders Laura Maire als Savita bringt in ihren wenigen Szenen eine eindringliche Klarheit ins Spiel – sie wirkt wie das Echo einer Welt jenseits der See. Insgesamt ist die Besetzung hervorragend gewählt, mit präzisem Timing und glaubwürdigem Spiel in jeder Nuance.
Die akustische Gestaltung ist zurückhaltend und punktgenau. Geräusche wie das Knarren des Schiffes, das leise Zischen der See oder das ferne Brummen der Maschinen erzeugen eine konstante Grundspannung. Gerade die Stille wird als Mittel genutzt – Momente ohne Musik oder Geräuschkulisse entfalten eine beklemmende Wirkung. Die Musik ist minimalistisch und sparsam eingesetzt, mit melancholischen Akzenten, die wie Geister aus der Tiefe wirken. Die Tonmischung ist differenziert, klar und atmosphärisch – hier wurde mit Gefühl für Dramatik und Reduktion gearbeitet.
Das Cover zeigt einen Frachter, der sich nahezu senkrecht in den Ozean neigt – eine Momentaufnahme des Untergangs, aber auch ein Symbol für das Kippen von Ordnung in Chaos. Die Ästhetik wirkt modern, fast surreal, mit kühler Farbpalette und nüchternem Schrecken. Der türkisfarbene Rand mit der Justitia-Silhouette signalisiert Krimi, aber das Motiv selbst geht tiefer: Es spricht von Kontrollverlust, Schuld und Verschwinden – in einer Welt, die niemand mehr retten kann.
Letzte Fahrt ist ein psychologisch präzises Kriminalhörspiel, das weniger von äußeren Ereignissen als von innerer Zerrissenheit lebt. Mike Walkers Text und Annette Kurths Regie holen das Maximale aus der kammerspielartigen Situation heraus. Wer actiongeladenes Seemannskino erwartet, wird irritiert sein – wer sich auf ein tiefschwarzes Charakterdrama einlässt, wird belohnt. Ein intensives Hörspiel über Schuld, Masken und den Versuch, mit einem Wrack wieder aufzutauchen.