Midnight Tales - 70. Der Erlkönig
Kick und Deeds – zwei alternde Rocker auf ihren schweren Maschinen – sind unterwegs zu einem ganz besonderen Festival. Ihr Weg führt sie durch eine düstere Nacht, in der Realität und Albtraum miteinander verschwimmen. Als ein junger Biker ihnen erzählt, dass er den Erlkönig gesehen hat, beginnt für die Gruppe eine Fahrt ins Grauen. Die uralte Ballade Goethes findet ihren modernen Widerhall – und fordert ihren Tribut.
Mit Folge 70 wagt sich die Reihe Midnight Tales an eine moderne Neuinterpretation eines der berühmtesten deutschen Gedichte: Goethes „Erlkönig“. Thomas Plum überträgt die düstere Stimmung des Originals ins Hier und Jetzt, ohne dabei die Wurzeln aus dem Blick zu verlieren. Heraus kommt ein Road-Horror-Stück mit viel Atmosphäre und einem gekonnt gesetzten Brückenschlag zwischen klassischer Dichtung und moderner Gruselfiktion.
Die Idee, den Erlkönig als Schattengestalt durch die Scheinwerferkegel röhrender Motorräder zu jagen, funktioniert erstaunlich gut. Die Handlung wirkt trotz der Vorlage eigenständig und druckvoll. Statt dichterischer Schwermut gibt es hier hallende Motorengeräusche, knisternde Lagerfeuerdialoge und ein bedrohliches Flackern zwischen Diesseits und Jenseits. Der dramaturgische Aufbau ist gradlinig und nutzt geschickt Sound und Tempo, um die Zuhörer in einen fiebrigen Zwischenzustand zu versetzen.
Mit Dennis Herrmann und Rolf Berg als abgeklärtem Biker-Duo ist die Folge stark besetzt. Besonders hervorzuheben ist Ekkehardt Belle als Erlkönig – seine Stimme schimmert unheilvoll und verführerisch zugleich, ganz in der Tradition des Originals. Wolfgang Pampel verleiht den Zeitangaben zusätzliche Gravitas, und Ilka Körting sowie Irene Weber sorgen für einen klanglichen Gegenpol zur testosterongeladenen Bikertruppe. Die Chemie stimmt – es klingt wie ein echtes, verschrobenes Familienalbum auf Rädern.
Sounddesign und Musik sind hier aus einem Guss. Michael Donner und Scott Lyle Sambora liefern eine akustische Unterlage, die zwischen Heavyness und sphärischer Spannung pendelt. Tarek Khalf sorgt für ein Sounddesign, das vor allem während der nächtlichen Fahrtsequenzen eine beeindruckende Sogwirkung entfaltet. Christoph Piaseckis Regie bringt das alles mit sicherem Gespür auf den Punkt – nicht zu überladen, aber stets pointiert.
Das Cover von Alexander von Wieding ist wie immer ein Hingucker: ein feuriges Bike mit dämonischem Antlitz im Frontscheinwerfer, Krone inklusive. Der moderne Erlkönig als urbaner Schrecken – stilisiert, plakativ, einprägsam. Die grafische Linie der Midnight Tales-Serie bleibt erhalten und liefert einmal mehr eine visuelle Klammer für den auditiven Horror.
Der Erlkönig ist nicht nur eine gelungene Modernisierung des Goethe-Klassikers, sondern auch eine der atmosphärisch dichtesten Folgen der Reihe. Thomas Plum und das Contendo-Team zeigen, wie man literarische Tiefe mit popkultureller Energie verbinden kann – als gruseliges Roadmovie für die Ohren. Ein stilistisch stimmiger Mix aus Poesie, Rock’n’Roll und Albtraum – und ein echtes Highlight für Fans der Serie.