Es gibt Hörspielserien, die man hört, genießt, vielleicht ein zweites Mal auflegt – und dann sind da jene, die sich wie ein düsterer Schleier über das Gedächtnis legen, einen verfolgen, sich tief eingraben. Edgar Allan Poe von Lübbe Audio gehört ohne jeden Zweifel zur zweiten Kategorie. Was hier zwischen 2003 und 2009 entstanden ist, war weit mehr als ein ambitioniertes Projekt – es war eine klanggewordene Verneigung vor einem der größten literarischen Dunkelmänner der Weltliteratur. Und gleichzeitig eine unvergessliche Reise in ein fiktives Ich, das nicht weiß, wer es ist – und das uns gerade deshalb so verstörend vertraut erscheint.
Ein namenloser Mann in der Rolle seines literarischen Geistes
Im Zentrum der Handlung steht ein Mann ohne Vergangenheit. Ohne Namen. Ohne Identität. Und ausgerechnet Edgar Allan Poe, der Chronist des Morbiden, des Wahnsinns, des Jenseits, wird zu seiner Projektionsfläche. Die Geschichte beginnt in einer düsteren Irrenanstalt, doch bald weitet sich der Horizont – nicht in Richtung Licht, sondern in die Tiefen des eigenen Schattens. Was Melchior Hala hier als Konzept entwirft, ist so gewagt wie genial: Er verwebt Poes Erzählungen und Gedichte mit Versatzstücken aus Werken anderer Klassiker und erschafft daraus ein düster-romantisches Panoptikum, in dem Figuren wie Dr. Templeton, Morella oder William Wilson ebenso real erscheinen wie Rick aus Casablanca oder der blutige Barbier aus der Fleet Street.
Diese Mischung aus literarischer Intertextualität und metaphysischem Detektivspiel ist nichts für nebenbei. Sie verlangt Hingabe. Und sie belohnt mit einer Atmosphäre, die man sich nicht ausdenken kann – man muss sie erleben.
Schauspielkunst im akustischen Dunkel
Dass diese Serie so eindringlich wirkt, liegt zu einem Großteil an ihrer exzellenten Besetzung. Ulrich Pleitgen verleiht Poe eine Stimme, die taumelt, flüstert, leidet – und uns nie wieder loslässt. Iris Berben als Leonie Goron/Sander ist mehr als nur eine Begleiterin: Sie ist das Echo des Unausgesprochenen, eine Rätselgestalt zwischen Rettung und Verdammnis. Der Cast liest sich wie das Who’s who des deutschen Sprechtheaters – Till Hagen, Peter Groeger, Anna Thalbach, Rolf Hoppe, Jaecki Schwarz, Hans Peter Hallwachs – sie alle fügen dem Geflecht aus Traum, Albtraum und Realität ihre eigenen, markanten Schatten hinzu.
Und dann ist da noch ein bemerkenswertes Intro: Das deutschsprachige Intro stammt von Heinz Rudolf Kunze, dessen markante Stimme gleich zu Beginn eine literarische Schwere und gravitätische Dichte erzeugt, die den Hörer augenblicklich in den Bann zieht.
Kompositionen für die Gruft – Musik, die unter die Haut geht
Die Musik stammt von den Regisseuren Simon Bertling und Christian Hagitte, und was sie hier orchestrieren, ist ein akustischer Totentanz voller Eleganz, Schwermut und Pathos. Der Soundtrack wurde eigens komponiert und mit echtem Orchester aufgenommen – ein Detail, das man nicht nur hört, sondern spürt. Besonders herausstechend ist die Idee, jede Staffel mit einem eigenen Abspannlied namhafter Künstler zu versehen. So stammt der Titelsong der ersten Staffel, „Der weiße Rabe“, von Heinz Rudolf Kunze, während Orange Blue, L’Âme Immortelle, Mara Kim oder Elane mit atmosphärisch passenden Songs die Stimmung der jeweiligen Staffeln unterstreichen. Eine kuriose und polarisierende Wahl war Christopher Lee, dessen dramatisch gesprochene Ballade „Elenore (EAP Mix)“ als Titelsong der siebten Staffel verwendet wurde. Zwar war Lee zu Lebzeiten als Schauspieler und Sänger geschätzt, doch sein Beitrag wirkt in diesem Kontext für manche etwas überzeichnet oder gar deplatziert. Dennoch fügt sich die musikalische Vielfalt der Serie in das außergewöhnlich ambitionierte Konzept ein – zwischen Gothic, orchestraler Düsternis und melodiösem Abgrund.
Schwarzweißträume in Bildform
Auch visuell ist die Serie unverkennbar: Die Covermotive von Simon Marsden, Fotograf und Poe-Kenner, sind kein bloßer Schmuck. Sie sind stumme Versprechen auf das, was im Inneren wartet. Nebel, verlassene Herrenhäuser, Schatten, Gestalten – jedes Bild ist wie ein verlorenes Foto aus einem Albtraum, den man nicht mehr loswird.
Das abrupte Ende einer Reise in den Wahnsinn
37 Folgen lang spannt sich dieser düstere Teppich aus – dann ist Schluss. Offiziell aus wirtschaftlichen Gründen. Zu geringe Verkaufszahlen, zu viele Raubkopien. Eine Tragödie hinter der Tragödie. Denn wer diese Serie erlebt hat, weiß: Hier wurde ein einzigartiges Kunstwerk nicht zu Ende erzählt. Zwar veröffentlichte Melchior Hala später Materialien zum geplanten Ende – aber nichts davon ersetzt das Erleben. Es bleibt ein dunkles Loch, ein Schweigen inmitten all des erzählten Wahnsinns.
Ein Meisterwerk des Hörspiels – und ein Mahnmal
Edgar Allan Poe ist keine Serie, die man einfach konsumiert. Sie ist ein Erlebnis, ein Sog, ein Spiegel. Sie ist ein Denkmal für das, was das Hörspiel sein kann, wenn man keine Kompromisse eingeht. Und sie ist ein Requiem – für Poe, für verlorene Identitäten, für das Hörspiel als Kunstform. Wer sich einmal auf diese Reise begibt, wird sie nie vergessen. Und wird vielleicht irgendwann verstehen, warum ein Mann ohne Namen ausgerechnet diesen Namen wählte.