Herbst 1979. Deutschland ist noch geteilt. Die Weltwirtschaft hat sich gerade einigermaßen von der ersten Ölkrise erholt und steuert doch schon (ohne es zu wissen) auf die nächste zu. Die Arbeitslosenzahlen in der Bundesrepublik haben sich auf knapp 900.000 eingependelt. Die Union hat F.-J. Strauß zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 1980 auserkoren, bei der er Kanzler Helmut Schmidt ablösen soll, der sich 2 Jahre zuvor im Deutschen Herbst mit der RAF angelegt hat. Die ersten Anti-Strauß-Plaketten („Strauß – nein danke“) erscheinen auf Jacken und Pullovern. Heroin ist zum Problem geworden, 1 Jahr zuvor hat das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ die Nation aufgeschreckt. In der Musikszene dominiert Disco die internationalen Charts, Frank Farians Formation „Boney M.“ haut eine Hit-Single nach der anderen heraus, in den Teenie-Zimmern kleben Bravo-Poster von Abba, Smokie und The Teens an den Wänden. Aber auch AC/DCs „Highway To Hell“ ist gerade erschienen. Vor anderthalb Jahren ist der erste Star Wars-Film in die deutschen Kinos gekommen, und die Fans warten gespannt auf die Fortsetzung, die für Frühjahr 1980 angekündigt ist. Vorerst begnügt man sich mit dem jeweils neuen Bud Spencer/Terence Hill-Streifen.
Wer noch Kind ist, für den hält die Hörspielindustrie bereits eine kaum noch zu überblickende Auswahl bereit. Eine große Anzahl Labels buhlt um die Gunst der Kids, die sich gerne lustige Geschichten und spannende Abenteuer von Platte oder Kassette anhören. Marktführer ist Europa – nicht nur, weil ihre LPs und MCs mit 6,95 DM die billigsten sind, sondern weil sie auch das breiteste Angebot und die modernste Produktionstechnik haben. Die Studios, die für die Labels der großen Unternehmen produzieren (z.B. für PEG von BASF, für Tom&Della von Teldec oder für Maritim von Gruner&Jahr) verfügen einfach nicht über ein so großes Geräusche- und Musikarchiv und so viel Erfahrung.
Europas Alleinregisseurin Heikedine Körting konzentriert sich seit 1978 verstärkt auf die Vertonung populärer Kinder- und Jugendbuchreihen. Denn im Hörspielsektor 9 – 13 Jahre ist das Abenteuergenre aus klassischen Vorlagen wie Jules Verne oder Karl May mittlerweile ziemlich abgegrast und das durch Star Wars gerade so populäre Science-Fiction-Genre scheint hörspieltechnisch nicht viel herzugeben. So hat man 1978 begonnen, die ersten Bücher der Reihe „Burg Schreckenstein“ zu vertonen, ebenso Enid Blytons „Fünf Freunde“, nachdem die TV-Serie so erfolgreich war. Dabei war Frau Körting auf die gute Idee gekommen, die 4 Hauptrollen mit den Berliner Synchronsprechern der TV-Serie zu besetzen. Im Kinder- und Jugendsprechersektor sind alle Studios immer auf der Suche nach Nachwuchstalenten, denn die sind rar gesät. Und diese vier West-Berliner Teenies haben Talent. Besonders von Oliver Rohrbeck ist Frau Körting beeindruckt. Sie lässt ihn im Jahr 1978 gleich für diverse Hörspiele Rollen aufnehmen, und sie fragt ihn, ob er auch Interesse hätte, in der geplanten Vertonung einer in Deutschland gerade sehr populären Jugendbuchreihe eine Hauptrolle zu sprechen: Den Drei Fragezeichen.
Klar hat er Lust. Vor allem, weil auch sein Kumpel Andreas Fröhlich dabei ist, mit dem er auf dieselbe Schule geht und früher schon gemeinsam in Berlin Hörspiele bei Kurt Vethake und Synchronarbeiten gemacht hat (z.B. hat Andreas in zwei TV-Folgen der Fünf Freunde den Tinker gesprochen). Und so fliegen die beiden irgendwann 1979 (vermutlich in den Sommerferien) von Berlin-Tegel mit Pan-Am (deutsche Fluggesellschaften wie die Lufthansa dürfen West-Berlin damals nicht anfliegen, und eine Zugfahrt durch die DDR wäre zu kompliziert und anstrengend gewesen) nach Hamburg und werden ins Aufnahmestudio von Europa gefahren. Oliver (14) kennt sich dort ja schon aus, Andreas (knapp 14) ist das erste Mal da. Dort lernen sie auch den Dritten im Bunde kennen: Jens Wawrzceck (knapp 16) aus Hamburg. Zuerst verhalten sie sich ihm gegenüber etwas arrogant, nach dem Motto: Wir Berliner werden diesem Hamburger Fuzzi schon zeigen, wo’s langgeht (Berliner haben nun mal gerne eine große Schnauze, ich weiß es von mir selbst). Doch mit der Zeit pendelt das Team sich ein. Andreas Fröhlich hat anfangs Probleme mit dem Lesen (das liegt ihm nicht so). Daher vertauscht Frau Körting kurz entschlossen die Rollen. Andreas spricht nun den Bob und Jens den Peter (ursprünglich war’s umgekehrt geplant), weil in der ersten Folge, die aufgenommen wird, Bob weniger Text hat.
Die Manuskripte hat Stammautor H.G. Francis verfasst und sich dabei mal mehr, mal weniger an die Buchvorlagen gehalten. Diese sind teilweise schon damals ziemlich alt, das erste DDF-Buch stammt aus dem Jahr 1964. Doch weil die Reihe erst 1968 auf den deutschen Buchmarkt kam, entstand die DDF-Begeisterung hierzulande entsprechend später und ist 1979 noch immer vorhanden. Auch bei Jens Wawrzeck, der viele (oder sogar alle) Bücher schon gelesen hat. Ob auch Oliver und Andreas die DDF-Bücher kennen, ist zweifelhaft (vor allem bei Andreas, der es wie gesagt mit dem Lesen nicht so hat). Doch das merkt man ihnen nicht an. Alle drei sind mit großen Einsatz und überzeugenden Sprecherleistungen bei der Sache.
Aufgenommen werden sie in der Regel nur zu dritt, die anderen Stimmen (meist erwachsene Schauspieler aus Hamburg) werden separat aufgenommen, manchmal vorher, manchmal erst Wochen später. Das ist damals bei Europa so üblich, und zumindest Oliver und Jens sind es gewohnt, mit „Unsichtbaren“ zu sprechen. Und so kommt es, dass die drei zum Beispiel Peter Passetti, der ihren Mentor Alfred Hitchcock spricht, nie zu Gesicht bekommen. Nur ihre Sidekicks (Gleichaltrige, die ihnen im Hörspiel bei der Lösung des Falles helfen) sitzen in der Regel mit ihnen gemeinsam vor’m Mikro, wie z.B. Torsten Sense aus Folge 8 „Der grüne Geist“, der auch aus Berlin eingeflogen wird und den Oliver ebenfalls schon aus anderen gemeinsamen Hörspiel – und Synchronarbeiten kennt. Oder der Hamburger Stephan Chrzescinski, der schon seit 1973 immer wieder bei Frau Körting im Studio ist und dort in den 70ern wohl der meist beschäftigte Kindersprecher überhaupt war. Inzwischen hat er seinen Stimmbruch schon hinter sich und klingt als „Gus“ in Folge 5 „Der Fluch des Rubins“ entsprechend reif, obwohl er derselbe Jahrgang ist wie Jens.
Zuerst werden 9 Folgen aufgenommen. Wann, wie oft (und jeweils wie lange) die Drei dafür im Europa-Studio sitzen, ist mir leider nicht bekannt. Doch da wie gesagt die Aufnahmen vermutlich in den großen Sommerferien gemacht werden, dürfte es nicht so kompliziert sein, dass Oliver und Andreas auch mal ein paar Tage am Stück in Hamburg bleiben dürfen. Vielleicht werden auch alle 9 Folgen „am Stück“ in ein, zwei Wochen aufgenommen (?).
Jedenfalls, am 12. Oktober 1979 ist es dann soweit: Die ersten 6 Folgen der Drei Fragezeichen-Hörspielreihe kommen in die Plattenläden und Kaufhäuser – auf LP und MC. Etwas später werden die Folgen 7 – 9 nachgereicht. Die Cover sehen aus wie die Bücher aus dem Kosmos-Verlag: Schwarz, oben in weiß der Schriftzug „Alfred Hitchcock“ mit dem Hitchcock-Kopf daneben, darunter die von Aiga Rasch gemalten Titelbilder, die durch ihre unheimliche Abstraktheit sehr beeindruckend wirken. Die Cover sind ein absoluter Blickfang (in LP-Größe noch mehr als auf MC) und üben einen unbeschreiblichen Reiz aus. Wer die Bücher noch nicht kennt, wird auch von dem Namen „Hitchcock“ fasziniert. Denn auch als Halbwüchsiger weiß man damals, dass dieser Name irgendwas mit Spannung zu tun hat – auch wenn man vielleicht noch keinen Film von ihm gesehen hat (dass Hitchcock außer als Namensgeber mit den DDF-Geschichten nicht das Geringste zu tun hat, weiß man damals freilich noch nicht).
Wer sich dann eine dieser ersten Folgen kauft (oder kaufen lässt), und sie dann zu Hause auf den Plattenteller legt oder in den Kassettenrekorder schiebt, für den beginnt ein neues Zeitalter und tut sich eine neue Welt auf ...
(to be continued)
Anmerkung: Der obige Text erhebt keinen Anspruch auf Authentizität, ist nicht umfassend mit Fakten belegt, sondern wurde aus Interviews mit den Machern, Infos aus anderen Quellen, persönlichen Erfahrungen und einem kräftigen Schuss „ins Blaue“, Spaß und Nostalgie geschrieben. Er ist also nicht so ernst zu nehmen, sondern soll anregen, einfach einen Blick zurück in die Geburtszeit der wohl populärsten deutschen Hörspielreihe aller Zeiten zu werfen. Andere Eindrücke, Ergänzungen (und von mir aus auch Korrekturen) sind herzlich willkommen. Natürlich auch gerne Kritik zu einzelnen frühen Folgen, von denen hier in nächster Zeit auch einige von mir kommen werden.